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07.04.2020
Überspringe nicht die Dunkelheit
Vor einiger Zeit, beinahe noch im Winter, setzte ich einen kleinen, kümmerlichen Löwenzahn in einen eigenen grossen Topf bei mir auf dem Balkon. Denn in meinem Herzen trage ich seit jeher eine Sympathie mit den Verfolgten und Missachteten in unserer scheinbar erfolgreichen Zivilisation. Und deshalb sollte es wenigstens einer der in allen zivilisierten Gärten meistbekämpften Vertreter seiner Gattung gut haben bei mir.

Eines Tages, so etwa vor 8 Tagen, lachte mir am Morgen der Löwenzahn quietschgelb entgegen. Er hatte in der Frühlingssonne seinen kleinen Blütenkopf geöffnet und sah nun bemerkenswert munter, frech und lebenslustig aus. So wie gelbe Löwenzähne eben aussehen. Ich erfreute mich an seinem Anblick. Ein paar Mal schloss er nach einem sonnigen Tag in voller gelber Pracht abends sein Köpfchen und öffnete es am nächsten beim ersten Sonnenstrahl wieder.

Doch dann war's damit auch schon vorbei. Der Löwenzahn behielt seinen Kopf geschlossen, so wie es jeder Löwenzahn tut, bevor sein wohl wichtigstes Werk beginnt. Von aussen betrachtet könnte in dieser Phase der Eindruck entstehen, er lebe gar nicht mehr: der für ganz kurze Zeit so fröhliche, gelbe Blütenkopf zieht sich zusammen, erscheint  jeden Tag dunkler, unscheinbarer, beinahe wie abgestorben. Aber das ist der grösste Irrtum überhaupt. Denn gerade jetzt bereitet sich der Löwenzahn auf seinen grössten und wichtigsten Auftritt im Leben vor. Damit er seine weisse Löwenmähne zeigen kann, die er so erfolgreich mit dem Wind in die weite Welt schicken wird, darf er die Dunkelheit nicht überspringen. 

Gerade jetzt finde ich das eine der wichtigsten Botschaften überhaupt. Der Löwenzahn macht's vor, was auch die Menschenseele durchmacht, wenn es scheinbar ganz dunkel  wird. Wie immer zeigt uns die Natur, wie Leben geht.

Coaching-Frage für heute:
Was entwickelt sich in mir gerade?
 

Video für heute:
Time lapse Dandelion flower to seed head






04.04.2020
Zen in der Kunst des Bogenschiessens
Vor 30 Jahren bestellte ich mir in Japan einen Zen-Bogen, zwei Pfeile und einen Handschuh und meldete mich in einem Dojo an, um Zen in der Kunst des Bogenschiessens zu erlernen. Unser Meister war ein kleiner, ruhiger, freundicher und ausserhalb des Dojos kettenrauchender Mann in fortgeschrittenem Alter. Als erstes nahm er mir den Bogen weg und sagte, dass ich diesen frühestens in ein paar Monaten überhaupt zum ersten Mal spannen dürfe. Zum Anfang musste ich lernen, richtig auf die Knie zu gehen, dort unerträglich lange zu verharren und danach ohne zu wanken wieder aufzustehen. Beim Knien war es wichtig, dass das rechte Knie ein paar Zentimeter über dem Boden schwebte, was Knien zu einer unfassbaren Tortur machte. Überzeugt davon, etwas für mein weiteres Leben sehr Wichtiges zu erlernen, machte ich mehr oder weniger geduldig mit.

Irgendwann durfte ich meinen Bogen spannen und darauf warten, dass sich der Pfeil von der Sehne löste wie Schnee, der im Frühjahr von einem Bambusblatt rutscht, wie es mein Meister poetisch ausdrückte. Genauso mühelos. Genauso leicht. Ich wartete vergeblich. Kein einziger Schuss in zwei Jahren löste sich mühelos, immer musste ich ein wenig nachhelfen, was dem Meister nicht entging und mir einen freundlichen Klaps mit dem Bambusstock auf die verspannten Schultern eintrug. Auch traf ich das Ziel meist nur ungefähr oder gar nicht, was aber laut dem Meister keine Rolle spielte, da das Ziel sowieso in mir liege und nirgends sonst. Trotzdem versuchte ich natürlich weiterhin ebenso unbelehrbar wie erfolglos, es zu treffen.

Nach zwei Jahren erschien unser Meister eines Tages nicht im Dojo. Wir erfuhren, dass er im Spital liege, todkrank. Ich wollte ihn besuchen, aber gerade als ich im Spital vor seinem Zimmer stand, wurde der Meister in seinem Bett hinausgeschoben, auf dem Weg in den OP. Er sah mich wie immer ruhig und freundlich an und sagte, ich solle nicht aufgeben. Dann machte zum Abschied noch ansatzweise ein Victory-Zeichen mit der linken Hand. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Kurze Zeit darauf starb er. Und ich gab auf. Ich war noch nicht mal bis zum 1. Dan gekommen.

Den Bogen habe ich immer noch. Die Zeit mit ihm zählt zu meinen glücklichen Erinnerungen.

Coaching-Frage für heute:
Ist der Weg das Ziel?

Video für heute:
ONE SHOT. ONE LIFE - Preparing for 8th Dan Kyudo Grading






01.04.2020
April! April!
1. April. Zeit, ein wenig zu lachen! Und welches Sujet eignet sich da momentan besser als der Mensch selbst? Homo sapiens, lateinisch für „verstehender, verständiger oder weiser, gescheiter, kluger, vernünftiger Mensch“, ist gerade "ganz klein mit Hut", wie meine Schwester gestern am Telefon sehr trefflich feststellte. Der Ausdruck gefällt mir. Passt viel besser als sapiens.

Nach soviel Frechheit und Arroganz allem anderen Leben gegenüber, sitzt Homo sapiens also gerade auf seinem kleinen Raumschiff, diesem Mini-Klacks im Universum, und wundert sich. Dieses Erstaunen ist schon lustig genug.

Unfreiwillig komisch sind dagegen die Hilferufe gewisser Homines sapientes, die mitten in der Corona-Krise noch einen Luxusliner bestiegen haben, um sich ein wenig in der Karibik zu amüsieren. Jetzt, wo auch der Luxusliner dem Virus nicht entkommen ist, ist die Bestürzung gross. Wer konnte schliesslich ahnen, dass so ein Virus nicht an Land bleibt? So gemein! Es sollte dem Menschen doch wenigstens noch erlaubt sein, sich ohne Coronavirus auf einem Luxusliner durch die verschmutzten Weltmeere schippern zu lassen, das ist noch nicht zuviel verlangt, oder?

Andernorten haben gewisse tatsächlich sehr weise, gescheite, kluge und verständige Tiere richtig erkannt, dass sich etwas sehr zum Positiven verändert hat: kein Mensch weit und breit in den Strassen von Llandudno in Wales. So eine Gelegenheit hat sich bislang  in der ganzen Geschichte der Menschheit keiner einzigen klugen Ziege geboten. Und deshalb sollte das gebührend gefeiert werden! 

Coaching-Frage für heute:
Kommt mir keine in den Sinn

Video für heute:
Goats take over empty Welsh streets as residents observe coronavirus lockdown






30.03.2020
Aus dem Gleichgewicht
Im Chaos fällt es schwer, das seelische Gleichgewicht zu halten. Und jetzt gerade ist die Menschenwelt vollkommen aus den Fugen geraten. Auch ich habe in den letzten Jahren, wie so viele Menschen, geahnt, dass diese irre Beschleunigung unseres Lebens, dieses immer mehr, immer besser, immer schneller, immer weiter uns igendwann direkt vor die Wand fahren lässt. Und wummmms! Here we are. Es ist leider noch viel schneller passiert, als wir alle zusammen geahnt haben.

Jetzt ist also das Gleichgewicht erst einmal futsch. Und ich gehe pro Tag durch x Stimmungslagen. Die einzelnen Stimmungen überlappen sich sogar. Bin ich zu besorgt oder geängstigt, kommt dazu noch das Gefühl, dass diese egozentrischen Gefühlslagen ziemlich peinlich sind, wo sich doch Andere gerade bis zur Selbstaufopferung für die Erkrankten einsetzen. Dann kommt zur Sorge noch die Scham.

Trotzdem gibt es diese Abstürze ins beinahe Bodenlose, die Sorge, wie es weitergeht. Aber vielleicht geht es jetzt gar nicht darum, möglichst wieder schneller und besser diese Situation zu meistern. Vielleicht ist es sogar gut, jetzt manchmal völlig auseinanderzufallen in sich, damit das, was ich bin, irgendwann neu zusammengesetzt werden kann?

Coaching-Frage für heute:
Wenn ich mich neu erfinden könnte, wie wäre ich dann?

Video für heute:
Auf dem Hochseil






29.03.2020
Werbung gone bad
Heute morgen hat mir easyJet geschrieben. Wie easyJet auf diese Idee gekommen ist, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, da ich seit Jahren gegroundet lebe. Haben sie sich überlegt, dass es jetzt an der Zeit ist, diesen Zustand zu beenden? Kann sein. Jedenfalls schreibt easyJet fröhlich: "Hallo Sibylle, alle Reiseziele für nur CHF 34.-, aber nur für kurze Zeit!" Damit ich mich schon jetzt auf etwas freuen könne.

Ich freue mich aber gar nicht so besonders darauf. Vielleicht liegt das daran, dass ich mir momentan gar nicht so richtig vorstellen kann, wie die Welt nach Corona aussieht, vor allem nicht in Barcelona, wohin mich easyJet 2021 "in die Wintersonne" schicken will.

Eine Freundin hat es aber noch viel schlimmer getroffen als mich. Sie bekam gestern auf Instagram eine Werbung angezeigt, in welcher die mannigfaltigen Vorzüge einer Seebestattung angepriesen werden.

Bin ich zu empfindlich, oder hat Werbung in letzter Zeit nicht oft so was Erschreckendes? Ist die leichte oder auch grosse Dreistigkeit, die Werbung sowieso auszeichnet, momentan nicht noch offensichtlicher als sonst?

Ich vermisse jedenfalls am meisten die ganz einfachen Dinge - ein Treffen mit Freundinnen, ein unbeschwerter Spaziergang mit dem Hund, Einkaufen ohne Desinfektionsmittel.

Coaching-Frage für heute:
Wofür im Leben braucht es keine Werbung?

Video für heute:
Richtig gute Werbung!






28.03.2020
Abwärts
Ich weiss ja nicht, aber wenn ich durch meine Insta-Feeds scrolle, prasselt da gerade eine Flut von Licht und Liebe und Lebensfreude auf mich ein, dass mir ganz anders wird. Alle überbieten sich in positivem Denken. Nur ich selber überbiete mich gerade nicht darin. Manchmal geht es mit meiner Seelenlage sogar fürchterlich tief runter, in höllische Gefilde. Verzweifelt schau ich zu, wie beispielsweise Supercoach Veit Lindau es gerade ganz, ganz lustig hat und mit seinem Team  im Park in der Sonne spazieren geht. Immer, wenn ein Jogger vorbeikommt, wenden sich alle zusammen kichernd ab. So lustig haben die es! Alle zusammen.

Je mehr Positivität und Frohsinn mir derzeit entgegenstrahlen, desto schwärzer wird meine Laune. Rabenschwarz wird sie. Ich lege mir dann entsprechend rabenschwarze Musik auf die Ohren und verziehe mich in den Wald. Dort darf es mit mir abwärts gehen, kein Baum hat was dagegen einzuwenden.

Und irgendwann, nach einer Zeit im Strudel, fühle ich wieder den Boden unter den Füssen. Kann mich abstossen, auftauchen, Luft holen.
 

Coaching-Frage für heute:
Was wäre Weiss ohne Schwarz?

Video für heute:
On feeling Melancholy






25.03.2020
Contact
Jody Foster sitzt alleine irgendwo in der Wüste von New Mexico und wartet. Es ist Nacht, das Weltall sendet gerade nichts anderes als Hintergrundrauschen. Millionen Sterne, aber kein E.T. , nirgends.
Es kann so einsam sein auf unserem Planeten. Ganz besonders, wenn der Mensch auf eine Nachricht wartet, die nicht kommt; oder jemanden verloren hat; oder einfach in der Quarantäne sitzt, weil gerade ein neues Virus sein gekröntes Haupt erhoben hat und nun mit strenger Hand die Welt regiert.
Nun sitzen wir hier also wie Jody Foster gemeinsam oder einsam und warten. Während sich draussen die Natur austobt, hat der Mensch Stubenarrest. Dort kommt er in mehr oder weniger erfreulichen Kontakt, besonders mit sich selbst. Zum Glück kann das mindestens so spannend oder erschreckend sein wie eine Begegnung mit E.T.
Nachts, auf dem Balkon, fragt sich auch die Coach, worauf sie im Leben wartet, gewartet hat, noch warten wird. Es scheint, dass es im Menschenherz immer irgendwo eine Leerstelle gibt, die darauf wartet, dass wir Kontakt zu ihr aufnehmen.

Coaching-Frage für heute:
Elly, warten Sie immer noch darauf, dass E.T. anruft?

Video für heute:
Contact: Journey Through Time & Space




24.03.2020
Es ist so still.
Hört ihr das auch? Diese Stille in den letzten Tagen? Und der Himmel ist so klar. Es fällt auf, wenn ein Flugzeug über das kondensstreifenfreie Tiefblau zieht. Und Nachts erst: diese Sterne! Und die Venus! Eine reine Pracht. Sowieso ist die Natur zur Zeit so fröhlich. Oder kommt es mir nur so vor, als ob die Vögel irgendwie noch fröhlicher als sonst im Frühling pfeifen? Auf dem Abendspaziergang mit dem Hund hüpfen plötzlich unzählige muntere Kröten um uns herum und die Enten im Weiher haben gerade Gruppensex.

Nur als Mensch fällt man gerade aus der allgemeinen Partystimmung der Natur ganz eindeutig hinaus.

Die Coach durfte heute ihrer Berufung nachgehen. In Zeiten von Corona stellen sich da ganz neue Herausforderungen. Die Zukunft visualisieren? Oder endlich wieder mal etwas Schönes für sich selber tun? Eine Timeline erstellen? Die nächsten Schritte planen? Forget it. Wir landen nur immer wieder ganz hart im Hier und Jetzt - dort, wo wir nach Eckhart Tolle sowieso hingehören. Und wo wir meistens sowieso eh viel zu selten sind.

Coaching-Frage für heute:
Und jetzt?

Video für heute:
A Pragmatic Guide to the Power of Now by Eckhart Tolle

 



23.3.2020
Was tut eigentlich die Coach, wenn die Krise sie selber trifft?
Wenn sie nicht bequem und meist recht munter in ihrem Praxissessel sitzen und andere coachen kann, die gerade eine Krise durchzustehen haben? Vielleicht haben sich das einige meiner KlientInnen auch schon mal gefragt? Et voilà: nun gibt es die Chance, die Coach in der Krise zu erleben. Live!
Damit für meine KlientInnen für Unterhaltung in der Krise gesorgt ist, habe ich beschlossen, hier eine Art Tagebuch zu führen. Es wird zwar nicht unbedingt von spannenden Höhepunkten meiner Existenz handeln, das ist den aktuellen Umständen geschuldet. Wie fast die gesamte Menschheit sitzt nämlich auch die Coach zu Hause, und das seit mehr als einer Woche. Sie wäscht sich pro Tag so oft die Hände, dass diese schon recht rauh und in einer Woche um geschätzt zehn Jahre gealtert sind. Sie schaut Netflix Serien en masse und geht (da hat sie ja wieder mal Glück gehabt!) mit ihrem ganz real existierenden Hund spazieren. Alleine. Morgens und Abends fast in der Dunkelheit. Und ansonsten verlässt sie das Haus nur ein bis zweimal pro Woche, um einkaufen zu gehen, im Gefühl, gerade etwas vom Spannendsten zu erleben, das der Mensch derzeit erleben kann. Im Grossen-Ganzen fühlt sie sich: eigentlich nicht schlecht, aber nutzlos. Sie vermisst ihre Arbeit.

Coaching-Frage für heute:
Was bin ich, wenn ich für andere nicht nützlich sein kann?

Video für heute:
Why you should make useless things